Es gibt 4.500 Wohnungslose in München. Egon ist einer von ihnen. Er war viele Jahre ganz ohne ein Obdach, aber gearbeitet hat er auch in dieser Zeit – stolz auf seine Selbstständigkeit. Seit Winter 2014 sucht er eine neue Arbeitsstelle – bisher erfolglos. Einen Bon vom Haken zu nehmen, bedeutet für ihn mitten in der Gesellschaft auch einmal wieder „Platz nehmen“ zu können.

Über die ungewohnt sonnigen Herbsttage im November hat sich Egon sehr gefreut. Er konnte raus aus dem Zweibettzimmer des Männerwohnheims, raus auf die Straße und vor allem zurück in die sonnige Stille des Alten Südfriedhofs. Unter dessen Arkaden hat er früher zusammen mit anderen „Kollegen“ die Nächte verbracht, geschützt vor Regen und Schnee. „Von unserer Truppe bin ich der letzte Mohikaner“, sagt Egon. „Die sind alle schon gestorben.“ Einer im Friedhof, einer in einem Hauseingang, einer in der eben erst gefundenen eigenen Wohnung.

Achtsame Passanten

Den Südfriedhof muss „die Truppe“ verlassen, als die Mitarbeiter des neuen Schließdiensts bei den Übernachtungsgästen kein Auge mehr zudrücken. Egon schläft ab da in der Fußgänger-Unterführung am Westermühlbach, die Sozialeinrichtung „Teestube“ in der Zenettistraße wird seine Anlaufstelle und Postadresse, in einem Dauerschließfach am Hauptbahnhof bewahrt er seine Dokumente auf. Es ziehen stetig die Radfahrer und Fußgänger an ihm vorbei, er kommt mit einigen ins Gespräch. „Am Wochenende stand immer mal eine Brotzeit da, an Weihnachten ein Nikolaus und eine Leberkässemmel.“ In der Unterführung spricht ihn die Filmemacherin Michaila Kühnemann an. Sie dreht den Kurzfilm „Auf der Straße mit Egon“, der im Rahmen des Internationalen Kurzfilmfestival KALIBER35 in München den 2. Platz beim Kurz & Knapp Kino-Sport-Cup gewinnt (die Filmemacher haben hier sportliche 35 Stunden Zeit, um ihren Film zu drehen, zu schneiden und dann auf der Leinwand zu präsentieren:

Auch Dave Mahony kommt mit seinen beiden Hunden regelmäßig die Unterführung entlang. In dessen Friseur-Salon in der Lindwurmstraße hängt seit Frühjahr 2015 ein Brot am Haken-Brett, durch ihn lernen wir Egon kennen. Aus den Unterhaltungen in der Unterführung hat sich einer der vielen freundschaftlichen Kontakte entwickelt, die Egon in die Isarvorstadt pflegt. Er grüßt immer wieder Passanten, als wir uns am Goetheplatz zu einem Kaffee treffen.

Immer der Arbeit hinterher

Egon ist in Hameln geboren. Aus der niedersächsischen Stadt ist er gleich nach seiner Lehre als Bau-und Möbelschreiner weggezogen – nach Westberlin. Er arbeitet in den folgenden Jahren in vielen Betrieben, an vielen Orten. Am 1. Dezember 1990 steht Egon am Flughafen Düsseldorf und fragt nach einem freien Platz in einer der nächsten Maschinen – Hauptsache, das Zielland gehört zur EU, hier kann er arbeiten. Das Flugzeug landet auf dem Aeropuerto Reina Sofia – Teneriffa. Auch hier arbeitet er bei vielen Schreinereien, 1993 zieht es ihn nach Barcelona, Ende der 90er-Jahre folgt er dem Auftrag einer Münchner Firma in die bayerische Landeshauptstadt. Anschließend bekommt er in der Großmarkthalle einen festen Arbeitsvertrag. 2005 wird er zusammen mit den anderen Kollegen entlassen, 2006 wird der Südfriedhof seine neue Bleibe. Trotz seiner Obdachlosigkeit habe er weiterhin gearbeitet, erzählt der 48-Jährige, meist als Lagerarbeiter.

Seit Oktober 2014 lebt er in einem Männerwohnheim in der Chiemgaustraße und zählt damit zu den etwa 4.500 Wohnungslosen Münchens, nicht mehr zu den Obdachlosen. Deren Anzahl sei mit rund 500 Personen viele Jahre lang „verschwindend gering“ gewesen, sagt Ottmar Schader, Pressesprecher des Sozialreferats. Der frühere Sozialreferent Frieder Graffe habe immer wieder betont: „In München muss niemand auf der Straße leben.“ Die niedrigen Zahlen seien dem immer wieder gelobten „Münchner Modell“ der koordinierten Wohnungslosenhilfe zuzuschreiben. Dieses Modell besteht aus einem dichten Netzwerk von Streetworkern, Anlaufstellen, Beratungs- und Unterstützungsangeboten und einer stationären und ambulanten medizinisch-psychiatrischen Versorgung verschiedener Träger.

Etwa ab 2013 habe sich diese konstant niedrige Zahl durch die sogenannte „Armutszuwanderung“ aus Rumänien und Bulgarien erhöht. Für diese zugewanderten Menschen hat die Landeshauptstadt München keine gesetzliche Unterbringungsverpflichtung. Damit aber auch diese von Anfang November bis Ende März eine Übernachtungsmöglichkeit finden, hat das Sozialreferat im Rahmen des Kälteschutzprogramms die Zahl der Plätze von 810 auf rund 1.000 Plätze erhöht.

 

„Das geht schon.“

Kurz vor Weihnachten 2014 ist Egon arbeitslos geworden, er bezieht jetzt Arbeitslosengeld II. Er wolle unbedingt arbeiten, nehme die Termine der Arbeitsagentur wahr und höre sich selbst um – aber noch habe er keinen neuen Arbeitsplatz gefunden: „Mir ist egal was, Hauptsache, ich verdiene ein bisschen Geld. Nur an der Haustür würd‘ ich nichts verkaufen.“ Die vergangenen Tage waren – trotz sonnigem Spätherbst – nicht sehr erfreulich, Egon spürt noch die Auswirkungen des Gichtanfalls und durch einen technischen Fehler sei ihm kein Geld überwiesen worden. Die Zeit bis zu einem ersten Vorschuss vom Amt müsse er nun irgendwie überbrücken. „Das geht schon“, sagt Egon, wie so häufig. Wie? Mit Flaschensammeln wie auch bisher. Essen werde er ausnahmsweise auch wieder bei den Verteilstationen der Münchner Tafel – normalerweise meide er die Menschenmenge dort.

Verteilstationen der Münchner Tafel

Ach, halt, etwas Positives sei doch passiert. Einen „KP-Schein“ habe er vor kurzem bekommen: Mit diesem Schein bescheinigt die zentrale Wohnungslosenhilfe der Stadt die Übernahme der Kaution- und Provisionskosten. „Wir haben ein großes Interesse, dass die Menschen, die wir in den Wohnheimen und Pensionen untergebracht haben, wieder ein dauerhaftes und selbstständiges Mietverhältnis finden“, sagt Ottmar Schader. „Die Zahl der Wohnungslosen steigt, wir haben in München einen angespannten Mietmarkt und zu wenige Sozialwohnungen. Wenn wir der Meinung sind, dass es jemand auch selbst schaffen kann, wieder eine eigene Wohnung zu finden, stellen wir diesen Schein aus.“

Wir drücken fest die Daumen, Egon!