Eigentlich hatte Sören Özer im Internet nur nach einem neuen Kaffeelieferanten gesucht. Dann las der Bäckerei-Inhaber auf der Webseite eines Kollegen in Istanbul von dessen Projekt „Brot am Haken“. Er erzählte seiner Frau Hekmet davon und am nächsten Tag hingen auch in ihrer Hamburger Bäckerei drei Haken – für Brot, Kuchen, Kaffee. Und damit hat Sören Özer viel bewegt.

32.000 Menschen wohnen im Stadtteil Wandsbek im Nordosten Hamburgs. Nur wenige Minuten sind es mit der U3 aus der Innenstadt hierher. Der Quadratmeterpreis liegt laut Hamburger Mietspiegel bei gemäßigten 10,26 Euro, der Weg zum „Wandsbäcker“ führt vorbei an vielen Mehrfamilienhäusern aus rotem und gelbem Klinker. „Hier wohnt die Mittelschicht“, sagt Sören Özer. Aber nicht allein. Auch in Wandsbek ist die Armut greifbar, das hat Sören Özer bald täglich hinter der Theke gespürt.

Vertraute Alltagssorgen

Er und seine Frau hatten 2007 die leerstehende kleine Bäckerei an der Holzmühlenstraße übernommen. Von weitem leuchtet eine Breze in Orange, die ausladende rote Markise spendet in Hamburgs Nachmittagshitze endlich Schatten. Während wir erst einmal einen tiefen Zug aus der Wasserflasche nehmen müssen, nutzt Sören Özer die Gelegenheit, mit der alten Dame zu reden, die sich im Laden auf einem Stuhl niedergelassen hat. Eine Stammkundin. Der 67-Jährige weiß um ihren mühsamen Alltag und die kleine Rente. Er hat dieses täglich Abwägen und Abzählen müssen so oft erlebt, dass ihm damals die Idee des Bäckers aus Istanbul sofort gefiel. In der dortigen Bäckerei konnten die Kunden zusätzlich gekauftes Brot in einem Beutel an einem Haken für Bedürftige zurücklassen. Sören Özer variierte das Vorbild, sägte eine alte Reklametafel zurecht, drehte drei Haken vom Baumarkt für die Kassenzettel hinein – fertig war in der Wandsbäckerei „Brot am Haken.“

Es hat ein wenig gedauert, bis sich Özers Kunden trauten, die gespendeten Bons auch von den Haken zu nehmen. Wenn ihm durch die großen Schaufenster ein Zögern vor der Tür aufgefallen sei, dann sei er halt hinausgegangen und habe gefragt, ob man nicht auf einen Kaffee hereinkommen wolle, erzählt er. Mittlerweile sei es ein sehr selbstverständliches, fast tägliches Geben und Nehmen. Pendler, die immer montags beim Wandsbäcker einkauften, spendeten oft mehrere Bons für die ganze Woche. Und doch sagt auch der Hamburger Pionier: „Wir haben es immer noch nicht akzeptiert, dass es in Deutschland Leute gibt, die sich nicht ihr täglich Brot leisten können.“

 

 

 

Schwerer Abschied

Sören Özer ist heute – wie so oft in der Woche – nur zu Besuch hier. Ende 2014 hat das Ehepaar die Bäckerei aus gesundheitlichen Gründen verkaufen müssen. Es ist ihnen schwer gefallen. Sie vermissen die Kunden und so schaut Sören Özer gerne regelmäßig auf einen Kaffee vorbei. Hekmet Özer ist mit den Enkelkindern unterwegs, er hat noch schnell Wäsche aufgehängt und ist dann mit seinem „Mopped“ in die Holzmühlenstraße gefahren. Dass die drei Haken hängen bleiben, war Bedingung beim Verkauf an seinen Nachfolger.

„Wir waren kein typischer Laden“, erinnert sich Sören Özer, der eigentlich Abdurrahman Özer heißt – aber 1974 bei der Einbürgerung das pragmatische Angebot des Beamten annahm, gegen 20 Euro künftig mit einem leicht buchstabierbaren Namen durchs Leben zu gehen. „Meine Frau kannte jeden Kunden, alle Kinder, alle Wehwehchen. Die Menschen wollen doch auch menschliche Wärme, die haben es satt, sich nur Regalen gegenüber zu sehen.“

 

Plötzlich prominent

Der Besuch einer Redakteurin des gemeinnützigen ökumenischen Vereins „Andere Zeiten“ verhalf „Brot am Haken“ dann sehr schnell weit über Wandsbek hinaus zu viel Aufmerksamkeit: Es entstand ein kleiner Artikel für den Kalender „Der Andere Advent“, der bundesweit vertrieben wurde. In der Holzmühlenstraße stapelten sich kurz darauf Briefe begeisterter Menschen, Bäckereien erkundigten sich, es fanden sich erste Nachahmer, wenn auch nicht in Hamburg. Nach einem Bericht in der taz spendete ein Leser aus Karlsruhe 250 Euro – „das war ein fast kilometerlanger Bon“ erinnert sich Sören Özer lachend.